(...) Die
Welt um sie herum ist zu einem einzigen schwarzen Loch geschrumpft,
als Ashe sich selbst sinnlos stammeln hört: "Warum? - Er hat euch
nichts getan? Warum?"
Aber seine herumirrenden Augen werden von absoluter Kälte, ja Vergnügen,
reflektiert. Hier findet er keine Reue, kein Gewissen. Hier wartet
nur eins auf ihn. Sein Tod. - Und das alles aufzeichnende Videoband
direkt vor seinem Gesicht.
Bitte verzeih mir, stammelt er stumm um Vergebung in dieser
finsteren, nebelgeschwängerten Nacht und bettet Dannies Kopf an
seine Brust, als wäre es eine zerbrechliche Eierschale. - Aber
dann hab ich dich wenigstens nicht belogen. Ich folge dir nach,
so schnell ich kann. Ich laß dich nicht allein.
Er hört nicht, wie sich Curve nähert. Er sieht nicht, daß der Anführer
zurückkehrt, und sich über ihn beugt. Er spürt nur halb, daß er
im Nacken gepackt und nach oben gezogen wird. Dann starrt er in
Pupillen, die unnatürlich geweitet sind. Eine Hand wischt eine Träne
von seiner Wange und plötzlich ist da ein Mund auf seinem, eine
fremde Zunge in seinem Hals und ein widerlicher Geschmack von schlechtem
Atem in seiner Kehle.
Ashe versteift sich vor Schreck und Ekel, und unversöhnlicher Haß
flackert in seinen Augen, als er endlich wieder losgelassen wird,
und an Dannies Seite zurückfällt. Gelächter wird um ihn herum laut.
Danny! Ashe bemerkt nicht einmal, wie die Kamera ein Stück
von ihm wegrückt, als sich der Videomann in Sicherheit bringt. Alles,
was er sieht, ist der brechenden Blick seines sterbenden Jungen
in seinen Armen und er fühlt, den abgrundtiefen Schmerz, der all
seine körperlichen Qualen und auch seine Demütigungen vollständig
übertönt.
"Nichts Persönliches, Sportsfreund." dröhnt die knirschende Stimme
des Anführers so, als ob sein Kuß keine Folter sondern echter Zuneigung
entsprungen wäre. "Ich schätze, ihr wart einfach zur falschen Zeit
am falschen Ort." Und die drei Schüsse, die unweigerlich diesen
Abschiedsworten folgen und Ashe zusammenbrechen lassen, heißt er
beinahe willkommen.
Die wenigen Sekunden, die ihm noch bleiben, bevor der Schock und
die Pein von durchlöcherten Lungenflügeln ihm den letzten Funken
Bewußtsein rauben, fassen Ashes gebundenen Hände ein letztes Mal
nach seinem neben ihm niedergestreckten Sohn. Dann schließt sich
der purpurne Vorhang.
* * *
"Was jetzt?" "Müllentsorgung."
Ein weit entferntes Empfinden von Rollen, Drehen, Zerren und Hochgehoben
werden.
Aber es ist nicht die Stimme Gottes, die diese Worte gesprochen
hat.
Das muß Ashe erkennen, als die Bedeutung durch sein betäubtes Gehirn
wie Schlamm in einem Flußbett sickert, - ihn aus einem Traum herausholt
- oder in einen Alptraum sinken läßt?
Trotz roter Schlieren in seinem Gesichtsfeld kann er Formen erkennen,
Konturen, mehr nicht.
Seine Augen wurden von dem Schock weit aufgerissen. Als wollten
sie mit ihren letzten Blitzen töten. Statt dessen sind sie selbst
jedoch erstarrt. Sie sehen, doch sie leben kaum noch.
Ein zweiter, kleinerer Körper wird an Ashes gepreßt. Ihn kann er
aber nicht erkennen. Er würde sich gerne zur Seite drehen, weil
er das Gefühl hat, daß es wichtig ist, genau das zu tun, und zu
schauen. Aber die Distanz ist viel zu groß geworden, als daß ihm
seine Muskeln noch gehorchten.
Und so beobachtet er, wie sie beide von den schattenhaften Gestalten
hin und hergeschoben werden. Kurz nur, dann plötzlich das Fehlen
jeder Schwerkraft. Wäre der Nebel nicht, müßte man die Sterne betrachten
können.
- Oder den Mond. - flattert ein Gedanke durch seinen Kopf. Und hat
den Beigeschmack einer Bitterkeit, die sich Ashe nicht recht erklären
kann.
Statt dessen driften seine Sinne in ein wohliges Empfinden von Wärme
und Frieden ab, während er so schwebt und treibt. Eine Ewigkeit
lang. Der Mond ist der dunkle Zwillingsbruder der Sonne. Die Sonne
ist blau. Und von welcher Farbe soll das Licht am Ende des Tunnels
sein?
Grün. Schlammgrün.
Denn die Ewigkeit ist kurz. Ein Aufprall, ein Platschen, - und dann
nur noch weiche gluckernde Geräusche. Etwas wiegt Ashe sanft hin
und her. Die Schleier vor seinen Augen werden kurz schaumweiß, dann
braun durchsetzt mit Fäden von Rot und dann scheiden auch diese
langsam dahin und lassen ihn in feuchter Finsternis allein.
Wäre das alles, hätte Ashe vielleicht seinen Frieden machen können.
An diesem Punkt loszulassen, ist einfacher als zu kämpfen. Und das
Vergessen hat seine Gedanken bereits in einlullendem Griff, als
sich sein Körper im Reflex noch einmal krümmt, in der Sekunde, als
seine gierigen, zerfetzten Lungen nach Luft schnappen und sich statt
dessen mit giftiger Meeresklaoke füllen.
Die Brühe verätzt seine Luftröhre, brennt sich wie eine Feuerwalze
ihren Weg durch den offenen Mund über die Speiseröhre direkt in
den Magen und sprengt Ashes Leben von innen nach außen, während
sein Herz dagegen anzupumpen versucht. Doch vergeblich.
Mit jedem zögerlicheren Schlag treibt es nur noch größere Mengen
von seinem Lebenssaft ins Meer. Und in dem Maße, wie es in seiner
Brust schwächer wird, und auf den Meeresboden sinkt, bauschen sich
seine Augäpfel aus ihren Höhlen heraus, denn sie sehen nun den zweiten
dunklen Schatten neben sich, ein wesentlich schmalerer.
Dunkles Schwarz vor hellerem Grau. Dieser jedoch regt sich nicht,
nur soweit wie ihn die Strömung treibt. Er spricht nicht, er atmet
nicht. Und doch trägt dieser Schatten einen bekanntes (geliebtes)
Gesicht und einen Namen.
Der ist es, der Ashe schließlich doch noch in tiefste Pein stürzen
läßt.
Qualen jenseits des körperlich verzehrenden Feuers, das seine Eingeweide
durchfährt, das jede Muskelfaser seines Körpers aufkreischen und
zusammenzucken läßt. Die Qual von Verlust, dem Gefühl von Versagen
und Hilflosigkeit, vor allem aber schmerzhafte, animalisch triebhafte
und zu lange unterdrückte unbändige Wut sind es, die seine Brust
in dessen letzten Aufbäumen füllen, weit jenseits aller Ängste vor
dem Tod. Jetzt endlich weiß er es.
In der Sekunde, als das Trommeln seines Herzen stolpert, aussetzt
und schließlich ganz erstirbt, - als sein Blick sich unwiderruflich
trübt und nicht einmal mehr das Rauschen von Wasser in sein schwindendes
Bewußtsein dringt, muß er erkennt, was er ein Leben lang gefürchtet
hat:
Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels.
Der Tunnel ist unermeßlich ausgedehnt.
- Und seine Farbe ist tiefstes Scharlachrot . (...)
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